Warum die angedachte DIN-Norm für Hygienemaßnahmen für Messen und Veranstaltungen ein kompletter Irrweg ist – Dieses Statement von Jan Kalbfleisch, Geschäftsführer Famab e.V., erreichte die Redaktion als Antwort auf das Interview „Standardisierter Hygieneleitfaden“ mit Michael Müller und Christian Radloff von Urbeno.
Die Berliner Eventagentur Urbeno hat in den zurückliegenden Wochen mit reichlich medialer Aufmerksamkeit die Erarbeitungen eines Hygieneleitfadens für Messen und Veranstaltungen gemeinsam mit dem renommierten DIN angekündigt. Vollständig soll das Werk am Ende „Hygieneleitfaden für Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen und Messen im Falle einer Pandemie“ heißen, und ich möchte nachfolgend darlegen, warum ich das gesamte Unterfangen für einen kompletten Irrweg halte und warum uns allen das Ergebnis mehr schaden an nutzen kann.
Warum eigentlich? Dazu muss man zunächst einmal wissen, was eine DIN SPEC eigentlich ist und wie diese zu Stande kommt. Hier schafft das DIN auf seiner eigenen Webseite Aufklärung:
„Eine Idee wird zum Verkaufsschlager, wenn mögliche Kunden Vertrauen in sie setzen. Erst dann entsteht ein Markt. Wer gemeinsam mit DIN einen Standard setzt, schafft Akzeptanz sowie Vertrauen und zugleich ein Netzwerk an potenziellen Kunden und Partnern. So wird mit einer DIN SPEC der Markt für neue Produkte vorbereitet.
Egal, ob Sie ein neuartiges Herstellungs- oder Prüfkonzept anbieten oder sich mit einer innovativen Technologie behaupten möchten, mit uns gehen Sie einen entscheidenden Schritt in diese Richtung. Sie bestimmen das Thema, für das Sie einen Standard benötigen. Sie bringen Ihre Geschäftspartner mit, die gemeinsam mit Ihnen ein Interesse an diesem Standard haben. Wir prüfen Ihr Anliegen, bringen interessierte Mitstreiter an den Tisch, organisieren den Ablauf, klären Widerspruchsfreiheit mit nationalen, europäischen und internationalen Normen und binden die Öffentlichkeit mit ein. DIN übernimmt das Projektmanagement, damit Sie sich ganz auf die Inhalte konzentrieren können. Das Ergebnis ist ein marktkonformer Standard für Ihre Innovation, das den weltweit anerkannten und bewährten Namen DIN trägt.“
Ich war selbst etwas erstaunt, wie klar das DIN ihre DIN SPEC als das aufdeckt, was es tatsächlich ist: eine – zugegebenermaßen recht raffinierte – Vertriebsmaßnahme. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei ließe sich noch darüber streiten, ob es mehr eine Vertriebsmaßnahme für das DIN oder den potentiell Normungsbegeisterten ist.
Das was da am Ende entsteht, ist übrigens keinesfalls eine DIN-Norm oder etwas ähnlich Gewichtiges. Es wird damit auch kein anerkannter oder gar rechtlich bindender Standard gesetzt. Dafür ist das – von DIN selbst liebevoll „Plug & Play“ genannt – weder geeignet noch ausgelegt. Es soll lediglich unter dem Siegel des zurecht anerkannten DIN in wenigen Netzwerktreffen interessierter Parteien ein Leitfaden entstehen. Zur Mitarbeit ist übrigens jeder eingeladen, der bereit ist, sich angemessen finanziell zu beteiligen. „Richtige“ Normen entstehen völlig anders und sind das Ergebnis sehr aufwändiger und arbeitsintensiver Projekte.
Die Initiatoren dieser Aktion lassen folgende Bestrebungen als ihre Motivation erkennen: „Aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation haben sich im bundesweiten Veranstaltungs- und Messebereich diverse Ausprägungen und Ansätze im Zusammenhang mit Hygiene-Standards entwickelt. Behörden schaffen Fakten und Vorgaben, allerdings oft ohne Zuhilfenahme von Branchen-Vertretern. Aktives und gemeinsames Mitgestalten ist hier das Gebot der Stunde, um für mögliche zukünftige Pandemien vorbereitet zu sein. Daher würden wir uns wünschen, möglichst viele interessierte Freelancer, Location-Betreiber, Eventagenturen, Caterer, Setbauer, Veranstalter, Verbände, Wissenschaftler und alle weiteren Stakeholder beziehungsweise Teilhaber unserer Branche für dieses Thema zu begeistern. Es gilt eine möglichst breite sowie bundesweit anwendbare Schnittmenge zu identifizieren und auf einer empirischen Basis einen Hygieneleitfaden zu entwickeln. DIN als Deutsches Institut für Normung bietet hierfür den passenden Rahmen, und wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit allen Beteiligten und Interessierten.“
Ich möchte den Initiatoren wirklich nur beste Absichten unterstellen. Dennoch halte ich bereits die gesamte Herleitung der Notwendigkeit dieses Projektes für grundsätzlich falsch.
Am Thema vorbei
Die zitierten Behörden – ich gehe mal hauptsächlich von Gesundheitsämtern aus – machen ihre Arbeit auf Basis der jeweils geltenden Landesverordnungen oder Corona-Verordnungen. Würde man das ändern wollen, müssten man also deutlich früher ansetzen, nämlich bei den gesetzgebenden Instanzen auf Landesebene. Diese werden sich jedoch nicht wirklich für das interessieren, was in einer DIN SPEC zum Thema Hygiene zu lesen ist. Es ist für unsere Branche überaus misslich, dass wir derzeit unter so unterschiedlichen – und vor allem sich permanent ändernden – Regelungen arbeiten müssen. Doch diesen Umstand kann man, wenn überhaupt – und daran arbeiten wir mit Hochdruck – als politischen Prozess ändern.
Zu breit
Jeder, der unsere Branche kennt, weiß wie weit verzweigt, vernetzt und dennoch höchst individuell die unterschiedlichen Gewerke sind. Ein Standard der für alle oben genannten Stakeholder – und es sollen ja noch deutlich mehr werden – hat eigentlich nur eine Chance: Es muss so breit und allgemein werden, dass er sich selbst weitgehend von tieferem Nutzen befreit.
Zu tief
Auch wenn ich bereits im letzten Punkt dargelegt habe, warum der neue „Standard“ nur völlig an der Oberfläche bleiben kann, gehen die Initiatoren und DIN einen völlig entgegengesetzten Weg und streben laut eigenem Geschäftsplan eine geradezu „beeindruckende“ Regelungstiefe an:
Zu berücksichtigende Themen sind demnach unter anderen:
− Akkreditierung/Eingangs- und Ausgangsszenerien,
− Travelmanagement (Bustransfers, kleine Personenshuttle)
− Ausgabe von Werbemitteln (Flyer, Goodie-Bags, Infomaterial, Samples)
− Garderobe
− Wegeführung, Laufwege
− Sitzbereiche
− Szenische Flächen (Bühnen, Workshop- und Meetingräume)
− Messestände, Ausstellungen, Exponate (z.B. Fahrzeuge auf Automessen, Bücher etc.)
− Catering (Bars, Essensausgabe/-bereiche)
− Ausgabe von Konferenztechnik
− Sanitäranlagen
− Reinigung und Desinfektion
− Anlieferung von Waren, Warensendungen
− Abstandsregelungen unter den Besuchern und mit den Besuchern
− Gewährleistung von ausreichendem Mund- und Nasenschutz
− Schutzeinrichtungen für Besucher
− Speisekarten, Kartenlesegeräte usw.
− Platzierung von Desinfektionsspendern
− und vieles mehr
Besonders letzteres sollte aufhorchen lassen.
Zusammengefasst kündigen die Initiatoren und das DIN also an, dass dort in kürzester Zeit ein „Standard“ entstehen wird, der für nahezu alle denkbaren Stakeholder nahezu alle denkbaren Gewerke in allen denkbaren Konstellationen und Regionen regeln wird. Werde an dieser Stelle nur ich nachdenklich?
Zu unflexibel
So ungünstig sich laufend ändernde Grundlagen in Form von Verordnungen sein mögen: Die Änderungen können ja durchaus auch zu Gunsten unserer Branche verlaufen. Sie kann ich aus zahlreichen Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern das Fazit ziehen, dass endlich eine klare Unterscheidung zwischen „Privatfeier“ und „Veranstaltung“ gezogen wird, die sich auch in den Verordnungen wieder finden wird. Und damit werden auch bestehende Hygienekonzepte möglicherweise wieder angepasst werden müssen (oder dürfen). Selbst die vom DIN unterstellten circa vier Monate – ich rechne eher mit mindestens sechs Monaten – sind für einen „Standard“ in unserer derzeitigen Phase deutlich zu unflexibel und den realen Entwicklungen permanent hinterher hinkend.
Für zukünftige Pandemien?
Der kühne Rechner wird schon länger wissen: Bei unterstellten sechs Monaten Umsetzungszeit haben wir das fertige Werk wohl im April 2021. Neben der Tatsache, dass wir bis dahin sicher noch eine ganze Reihe von grundsätzlichen Verordnungsänderungen erlebt haben, dürfen wir der berechtigten Hoffnung sein, bis dahin deutlich weiter im Kampf gegen das Virus zu sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden bis dahin Vakzine und/oder Medikamente zu Verfügung stehen. Nein, ich glaube deswegen nicht, dass damit dann alles gut ist. Aber das Thema Hygienemaßnahmen wird nicht mehr diesen Stellenwert haben. Doch auch hier wissen sich die Initiatoren zu helfen. Denn der zu erarbeitende Standard soll eigentlich gar nicht für diese, sondern für zukünftige Pandemien gelten. Zu erklären wäre dann allerdings noch, welches Virus oder Bakterium oder was auch immer die nächste Pandemie auslösen wird. Denn davon und den Verbreitungswegen werden doch zukünftige Hygienekonzepte abhängen müssen. Es sei denn, man verbleibt eher auf der „Händewaschen wird sicher nicht schaden“ Ebene.
Ein Branchen-Standard?
Die von mir einerseits kritisierte Breite ist andererseits bei der Etablierung eines echten Branchenstandards natürlich notwendig. Üblicherweise, und so auch hier, werden alle relevanten Verbände im Vorfeld angesprochen, um deren Meinung gebeten und zur Mitarbeit eingeladen. Und auch hier zeigt sich dieses Projekt überaus speziell: Alle, ich wiederhole, alle mir bekannten Insider und Betroffenen haben sich auf Nachfrage überaus kritisch zum vorgestellten Projekt geäußert und angekündigt, nicht bei der Erarbeitung zu unterstützen. Nun gibt es zweifellos auch außerhalb von Verbänden schlaue und für dieses Thema kompetente Menschen. Ein Standardisierungsprojekt allerdings, dass gegen alle sachlich gut begründeten Einwände aller relevanten Verbände dennoch durchgesetzt wird, ist am Ende vieles – ein Branchenstandard sicher nicht.
Ich möchte den Initiatoren an dieser Stelle nochmals beste Absichten unterstellen. Ich unterstütze grundsätzlich – und derzeit ganz besonders – jede Initiative, die hilft, unsere Branche durch dieses viel zu lange Tal der Tränen zu führen. Aber das, was hier gerade angeleiert wird, hilft uns nicht – ganz im Gegenteil.